Presse

Home

Halberstädter diskutieren über Asyl

Mit der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) ist Halberstadt der Brennpunkt der sachsen-anhaltischen Asylpolitik. Mehr als tausend Asylsuchende finden jeden Monat ihren Weg zur Erstaufnahmeeinrichtung am Stadtrand. Zu den Themen Asyl und Zuwanderung hat am Mittwochabend erstmalig eine Bürgerversammlung im Rathaussaal stattgefunden.


Es sollte über die Situation in der Stadt diskutiert werden. Gut einhundert Bürger haben die Einladung angenommen. Alle seien in der Stadt willkommen, sagt Oberbürgermeister Andreas Henke: „Zuwanderer, Besucher, Asylsuchende. Wir verkennen aber nicht, dass auch neue Konfliktpotentiale entstehen können.“ Jutta Dick, Direktorin der Moses-Mendelssohn-Akademie, verweist auf die Einwanderungsgeschichte der Stadt und berichtet von den Juden, die im 19. Jahrhundert vor der Verfolgung in Osteuropa nach Halberstadt gekommen waren. „Sie hatten die Vorstellung, Halberstadt als ewige Heimat zu haben“ – ein Irrtum, wie die Geschichte gezeigt hat.

Susi Möbbeck (SPD), die Integrationsbeauftragte des Landes, versorgt die Anwesenden mit Daten und Fakten. Mit „deutlicher Steigerung“ würden derzeit Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Doch lediglich drei Prozent der Asylsuchenden würde Sachsen-Anhalt aufnehmen. Nach durchschnittlich drei Wochen verlassen die Asylbewerber die ZASt in Halberstadt wieder und würden auf die Kreise und kreisfreien Städte aufgeteilt. Ein großer Nachteil für das Land sei, dass die Asylsuchenden, sobald ihr Antrag genehmigt ist und sie eine Arbeitserlaubnis haben, Sachsen-Anhalt verlassen würden. Moderator Jürgen Schlicher verwies darauf, dass Deutschland eine Zuwanderung von 700000 Menschen pro Jahr benötige, um Infrastruktur und Bevölkerungszahl zu halten. Berechnungen würden davon ausgehen, dass in den kommenden 25 Jahren die wirtschaftlich wichtige Altersgruppe der 20- bis 60-Jährigen um 15 Millionen schrumpfen wird. Auch deswegen spricht sich Susi Möbbeck für eine verstärkte Nutzung der Potentiale aus, die Flüchtlinge nach Deutschland mitbringen. Zuwanderer aus der EU, deren Zahl weitaus höher als die der Asylsuchenden sei, könnten den Bedarf nicht mehr erfüllen.

Doch die folgende Diskussion dreht sich nicht um Zuwanderungssalden, demografischen Wandel und Sicherung des Lebensstandards. Es geht um sehr viel praktischere Dinge, denn die meisten der Anwesenden sind bereits in der täglichen Arbeit mit Flüchtlingen engagiert: Bahnhofsmission, Caritas, Diakonie, Zora, Bürgerbündnis und viele andere.
 
Als großes Problem stellt sich schnell der Weg vom Halberstädter Hauptbahnhof zur ZASt heraus. Sechs Kilometer liegen zwischen beiden Gebäuden. Alle zwei Stunden fährt ein Bus, zudem können sich Taxifahrer die Fahrtkosten vom Land erstatten lassen.
Doch das sei graue Theorie, sagt Constantin Schnee von der Bahnhofsmission. „Abends fährt kein Bus, und oft nicht mal ein Taxi“, sagt er. Seine ehrenamtlichen Kollegen müssen die ankommenden Asylbewerber oft mit dem privaten Pkw zum anderen Ende der Stadt fahren. Das sei für Ehrenamtliche, die oft selbst erwerbslos sind oder nur über kleine Einkommen verfügen, nicht zumutbar. Eckhard Stein, der Leiter der ZASt, bestätigt die Zustände: „Es gibt nicht genügend Taxis vor Ort.“

Und auch die Menschenmengen, die sich jeden Tag von der ZASt in die Stadt bewegen, beschäftigen die Anwesenden. Monika Gunkel, die Migrationsbeauftragte der katholischen Gemeinde, fragt, warum die Asylbewerber keine kostenlosen Fahrscheine für den Bus erhalten. Oberbürgermeister Henke verweist auf das Asylbewerberleistungsgesetz, in dem geregelt ist, dass das Taschengeld, das Asylsuchende in Deutschland erhalten, auch für Fahrkarten vorgesehen ist. Zudem könne sich die Stadt kostenlose Fahrkarten nicht leisten. „Ich würde es gerne machen, aber wer gibt uns das Geld dafür?“ Die Halberstädter Verkehrgesellschaft sei ein „Defizitunternehmen“, das von öffentlichen Zuschüssen abhängig ist.
 
Ein anwesender Bürger lenkt die Debatte zurück zur „großen“ Politik. Dublin-Abkommen und Frontex seien eine „Kampfansage gegen Flüchtlinge“, sagt er. Die Flüchtlinge, die nicht im Mittelmeer, sondern bereits in der Sahara sterben, würde niemand zählen. Darüber müsse mehr aufgeklärt werden. Denn erst wenn die Schicksale bekannt sind, könne man der Bevölkerung die Angst nehmen. Stefanie Rademacher unterrichtet an der ZASt in den ehrenamtlichen Integrationskursen. Sie überbringt die Botschaft eines Asylsuchenden aus Syrien: „Sie möchten gern arbeiten und zu allen Halberstädtern einen guten Kontakt haben.“

Dennoch scheint Angst in Halberstadt vorhanden zu sein. „Es ist erschreckend, was man in der Stadt hört“, sagt eine Bürgerin. „Ich höre zu 80 Prozent rechte Meinungen.“ „Es muss kein Halberstädter Angst haben, diesen Menschen zu begegnen“, sagt Eckhard Stein. „Sie sind sehr froh, hier zu sein, und fast immer sehr freundlich.“ Allerdings findet die Botschaft an diesem Abend nicht die gewünschten Adressaten. „Besorgte Bürger“, wie sie derzeit in Freital und anderswo gegen Asylsuchende hetzen, sind an diesem Abend im Rathaussaal nicht zu finden oder äußern sich nicht.
Das stellt auch Hans-Jürgen Scholz, Linken-Stadtrat in Halberstadt, fest: „Es sind alles Leute hier, die sehr aufgeschlossen sind. Aber es wäre besser, auch mit den Betroffenen zu reden“, sagt er und nimmt die internationale Politik ins Visier. Er verweist auf die über eine Million Flüchtlinge, die der kleine Libanon aufgenommen hat. „Und wir streiten uns über solch läppische Zahlen.“

Scholz schlägt nach zwei Stunden Diskussion vor, die Veranstaltung fortzusetzen. Das hatte Andreas Henke bereits versprochen. „Ich werde den Rathaussaal noch einmal zur Verfügung stellen“, sagt der Bürgermeister und fasst damit das Ergebnis des Abends zusammen. Eine weitere Veranstaltung soll den verschiedenen Initiativen die Möglichkeit geben, sich zu vernetzen

Jörn Wegner (Volksstimme Halberstadt)

  • Angeregt und sachorientiert haben am Mittwochabend über 100 Bürger im Rathaussaal über Flucht, Asyl und Zuwanderung diskutiert, Vor allem ging es um konkrete Probleme in Halberstadt. Foto: Jörn Wegner, Volksstimme