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HomeInspiriert von Nachlässen in seiner Familie und dem rudimentären Wissen um die Tätigkeit seines Großvaters in den Nachkriegsjahren im Martineum und nach der Zusammenlegung mit dem Domgymnasium zur Dom- und Ratsschule ab 1947 war Jörg Essigke daran interessiert, mehr über dessen Werdegang vornehmlich in diesem Zeitraum zu erfahren.
Was lag näher, als in der betreffenden Einrichtung nach diesbezüglichen Unterlagen zu fragen. Als der Halberstädter bei Schulleiter Stefan Pasderski vorsprach, erfuhr er etwas von einem Stahlschrank in der Hausmeisterei, in welchem bislang kaum beachtete alte Akten lagerten. „Eine erste flüchtige Sichtung führte zu der Erkenntnis, dass ein immenses Potential für familien- und sozialgeschichtliche Untersuchungen in diesen Papieren schlummert“, berichtet Essigke.
Unerwarteter Aktenschatz
Ins Auge fiel ihm sofort ein Aufnahmebuch, das kontinuierlich von Ostern 1885 bis September 1960 geführt wurde. „Die darin erfassten Daten wie Geburtstag und -ort, Stand und Wohnung des Vaters, Konfession, Wohnung des Schülers, Impfungen, sonstige Bemerkungen lassen Rückschlüsse z. B. auf die Sozialstruktur der Jahrgänge zu. Als hoch interessant erweist sich auch das Abgangsbuch für den Zeitraum von 1897 bis 1961. Hier werden auch die vorzeitigen Abgänge mit Zielen der weiterführenden Ausbildung dokumentiert. Spannend ist hierbei eine Betrachtung der Abgänge in den Kriegsjahren 1914-1918 und 1939 -1945“, ist Jörg Essigke begeistert von dem Fund.
Ähnliches liegt für die Oberrealschule vor, begonnen Ostern 1892 bis Januar 1938, dem Jahr der Vereinigung mit dem Städtischen Realgymnasium, sprich Martineum. Ebenso vorhanden ist das Schülerverzeichnis des Domgymnasiums, begonnen 1888, letzter Eintrag November 1946, danach die Vereinigung mit dem Martineum zur Dom- und Ratsschule. In zwei Bänden, 1907-1912 und 1912-1918 finden sich Zeugnisse über die „wissenschaftliche Befähigung für den einjährig-freiwilligen Militärdienst“, eine wahrscheinlich wichtige Karrierestufe in der Kaiserzeit.
Wertvolle Dokumente
Erwähnenswert seien auch verschiedene Bände mit Abgangszeugnissen, auch Zeugnisse bei vorzeitigen Abgängen. Ein Dokument erfasst die Arbeit eines Elternbeirats von September 1969 bis März 1972, erwähnt der 2. Vorsitzende des Geschichtsvereins für Halberstadt und das nördliche Harzvorland bei der Übergabe der umfangreichen Dokumentsammlung an das Stadtarchiv auf und fügt hinzu: „Aus meiner Sicht sollten die Unterlagen der Abschlussprüfung 1950 für die Klasse 12c eine besondere Beachtung finden. Denn es handelt sich um die komplette Dokumentation dieser Prüfung, beginnend mit der Bewerbung, der Beurteilung der Schüler, den Prüfungsaufgaben und Lösungen, der Bewertung durch die Prüfungskommission, Zeugnisse.“ Der vollständige Erhalt sei wahrscheinlich dem Umstand zu danken, dass diese Klasse nur vier Schüler hatte. Essigkes Nachforschungen ergaben, dass zumindest eine Angehörige dieser Schüler wieder im Raum Halberstadt zu Hause ist.
Neben diesen und weiteren Unterlagen liegen auch die kompletten Klassenbücher der Klassen 9 – 12 für die Schuljahre 1971/72 bis 1985/86 vor.
Ansätze für Nachforschungen
Vor wenigen Tagen wurde der Aktenschatz in der Aula des Martineums präsentiert. Neben Dr. Volker Bürger, Vorsitzender des Geschichtsvereins, Oberbürgermeister Daniel Szarata als ehemaliger Martineer, Museumsdirektorin Dr. Antje Gornig und Sophia Steinmetz vom Stadtarchiv, nahmen auch einige Schüler der 11. Klasse mit ihrem Geschichtslehrer die 13 Bücher in Augenschein, die anschließend dem Stadtarchiv übergeben wurden.
„Ich danke Herrn Pasderski für die Unterstützung bei meinen Recherchen, deren ursprüngliches Ziel ich aber leider noch nicht erreicht habe“, sagte Essigke, und verwies darauf, dass sein Großvater seit 1919 Studienrat am Domgymnasium und einer der Lehrer des Chronisten Werner Hartmann war, der 1933 an dieses Gymnasium kam.
Sein Wunsch sei, dass sich aus den Inhalten der Dokumente verschiedene Ansätze für weitere spannende Nachforschungen, auch im Rahmen von Schülerprojekten, ergeben. Als Beispiel sei die schulische Ausbildung von Mitgliedern der siamesischen Oberschicht, einschließlich des Königshauses, in den Jahren 1880 bis zum Ersten Weltkrieg in Deutschland genannt. Belege für Schüler in Halberstadt finden sich auch in diesen Unterlagen.
Zum Abschluss rief er alle derzeitigen und ehemaligen Lehrkräfte des Martineums auf, Informationen oder auch Dokumente, die als Mosaiksteinchen das facettenreiche Bild der Geschichte dieser bedeutenden Bildungseinrichtung unserer Stadt vervollständigen helfen, dem Geschichtsverein bzw. dem Stadtarchiv zur Verfügung zu stellen. Dieser Aufruf ergehe auch an alle ehemaligen Schülerinnen und Schüler.
In der Familie fragen
An die heutige Schülergeneration gerichtet, sagte Essigke: „Geschichte hat mit Geschichten zu tun, Regionalgeschichte mit dem eigenen Umfeld. Sie werden sich irgendwann, spätestens bei Klassentreffen, an die Ereignisse ihrer Schulzeit erinnern. Und dann werden sie feststellen, wie verschieden die Wahrnehmungen ein und desselben Ereignisses sein werden. Und so beginnt die Suche nach Unterlagen, die die eine oder andere Aussage untermauern. Das gilt auch für Familienerzählungen. Die vorliegenden Akten bieten auch Gelegenheit, Familienangehörige und Vorfahren wiederzufinden. Das kann Interesse an der eigenen Geschichte wecken, vor allem, wenn noch alte Familienunterlagen und Fotos in den Schubladen ihr Dasein fristen.“
Die jungen Leute sollten sich Zeit nehmen, mit Eltern, Großeltern, Verwandten und Bekannten zu sprechen, alte Fotos zu sichten und die abgebildeten Personen zu identifizieren. Es könnte sein, dass später Fragen auftauchen, die dann aber niemand mehr beantworten kann.
(Text: Jörg Essigke/Gerald Eggert)